Über starke Geschmäcker, falsche Burger und das Potential von Erbseneintopf

Prof. Dr. Thomas Vilgis ist Physiker, begeisterter Koch und Esser. Seine Leidenschaften verbindet er seit vielen Jahren in seiner Position als Gruppenleiter am Max-Planck-Institut für Polymerforschung in Mainz, wo er Lebensmittel und deren Eigenschaften im Labor untersucht.

Prof. Dr. Vilgis
Prof. Dr. Thomas Vilgis

Felix Bröcker im Dialog mit Prof. Dr. Thomas Vilgis

Anders als viele Feinschmecker, die erregt und leidenschaftlich Zubereitungen, Rezepte und Restaurantbesuche diskutieren, geht Thomas Vilgis seiner Leidenschaft sehr nüchtern nach. Er verfolgt keine Ideologie, sondern vertraut seiner Erfahrung und seinen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Nach dem Motto: „Auf molekularer Skala gibt es keine Politik – alles andere sind Meinungen, Glaube oder Ansichten.“

Thomas Vilgis lässt sein Wissen auch anderen zu gute kommen. Mit Beiträgen im Journal Culinaire, dessen Mitherausgeber er ist, in Effilee, oder in Essen und Trinken und in Büchern wie Aroma – Die Kunst des Würzens, Kochen für Angeber, Der Gastronaut oder zuletzt Biophysik der Ernährung,  bringt er seine Erkenntnisse auch in die heimischen Küchen.

Mit uns hat er sich über das für und wider von Ersatzprodukten unterhalten und das Potential von Glutamat erklärt. Dabei spricht er nie nur als Physiker, sondern immer auch als aufgeklärter Esser.

Glutamat: Über die Natur des künstlichen

Wir sind süchtig nach Glutamat. Daher haben wir bei Milk versucht es in verschiedenen Rezepten herauszuarbeiten, um Gemüse mit möglichst viel Umami-Geschmack zu versorgen.

Glutamat verstärkt genaugenommen nicht den Geschmack einzelner Lebensmittel, ist also kein Geschmacksverstärker im wörtlichen Sinne, sondern sorgt für Umami Geschmack und ist damit neben süß, sauer, salzig und bitter (fettig wird ebenfalls diskutiert) eine der Grundgeschmacksrichtungen. Umami kommt aus dem japanischen und steht für Schmackhaftigkeit. Gemeint ist ein Geschmacksbild, das wir vor allem mit Herzhaftem, häufig auch mit Fleischgerichten verbinden. Allerdings kommt freie Glutaminsäure in Tomaten, gereiftem Käse oder Pilzen ebenfalls sehr reichlich vor und in der Muttermilch ist der Gehalt an Glutaminsäure besonders hoch.

Entstanden sind bei uns diverse, rein pflanzliche Produkte wie Jerkies, Apfel Maggi, Dulse Brühwürfel oder ein Pilz Burger Patty.  

Geschmacklicher Vorsprung durch Technik

Wir haben dafür Kochtechniken wie rösten, grillen, fermentieren oder reduzieren genutzt und Zutaten, die einen hohen Gehalt an Glutaminsäure haben (Algen, Pilze, Sellerie). Reines Glutamat hinzufügen wollten wir nicht. Es ist wie Doping in der Küche und fühlt sich falsch an. Doch was spricht wirklich dagegen? Schließlich ist natürlich vs. künstlich eine irreführende Unterscheidung. Denn die reine, isolierte Glutaminsäure lässt sich auf molekularer Ebene nicht in natürlich und künstlich unterteilen.

Es kommt wie immer drauf an. Thomas Vilgis jedenfalls schätzt handwerkliche Techniken zur Geschmacksoptimierung aber hat auch keine Angst vor reinem Glutamat.

Keine Angst vor MSG

„Glutamat ist wie raffiniertes Salz – ich habe beides in der Küche“. Zuviel kann die Geschmacksbalance eines Gericht zerstören, aber ganz ohne wäre es auch recht fad. Und per se gefährlich ist weder Glutamat noch Salz – Die Dosis macht auch hier das Gift. Er nutzt es gerne für Desserts. Etwas Glutamat z.B. auf Erdbeeren sorgt für einen interessanten Kontrast und verbindet fruchtige Süße mit Umami.

Wichtig ist dabei zu verstehen, dass Glutamat kein geschmackliches Allheilmittel ist. Ähnlich wie Vanillin zwar nach Vanille schmeckt, fehlt diesem isolierten Aroma die Komplexität von Vanille. Handwerkliche Kochprozesse erhöhen nicht nur den Gehalt an Glutamat, sondern sorgen für eine Konzentration von Aromen oder verändern den Geschmack durch weitere Prozesse, die beim Kochen ablaufen. Viel Glutamat hilft daher nicht immer viel, sondern lässt Gerichte einseitig nach Umami schmecken.

Deutlich wird, dass es Thomas Vilgis nicht um Ideologien in der Küche geht, sondern darum, sich den Dingen mit Verstand zu nähern und entsprechend zu entscheiden was, wann und wie zum Einsatz kommt – Oder wie er selbst sagt: „Erst Hirn dann Herd einschalten“

Ersatzprodukte: „Fakealien“ oder Proteine die die Welt retten

Thomas Vilgis spricht provokant von „Fakealien“ wenn es um Ersatzprodukte geht. Wir haben bereits selbst einige Ersatzprodukte hergestellt und waren meist recht angetan. Wie z.B. von unserem Cashcow Käse aus Cashew Kernen. Was genau ist dabei also das Problem?

Überraschenderweise argumentiert Thomas Vilgis dabei zunächst nicht naturwissenschaftlich, es geht ihm vielmehr um kulturelle Hintergründe. Ein Käse aus Cashew Kernen hat eben einen ganz anderen kulturellen Hintergrund, der nichts mit dem eines Camemberts zu tun hat. Das zu suggerieren sei falsch. „Fake News“ sozusagen.

Eine neue Esskultur?

Auf der Ebene der Herstellung wird für manche Ersatzprodukte recht tief in die Trickkiste industrieller Nahrungsmittelproduktion gegriffen, erklärt er weiter. Denn unterschiedliche Peptide und Aminosäuren sorgen für ein anderes Geschmacksbild bei derartigen Analogprodukten, das dann korrigiert werden muss.

Noch extremer sei das bei manchen Burger-Patties ohne Fleisch. Das sind hochkomplexe und hochprozessierte Lebensmittel. Wenn aus einer hochwertigen Erbse mit hohem Aufwand ein Patty produziert wird, wobei viele Bestandteile der Erbse aussortiert werden, entsteht eine „Fakealie“ so Thomas Vilgis. Mit traditionellem Handwerk habe das außerdem nichts mehr zu tun, darin erkennt er die Gefahr einer weiteren Entfremdung des Menschen von seinen Lebensmitteln. Sind diese Produkte aber vielleicht dennoch ein Weg, die Gier des Menschen nach Fleisch nachhaltig zu gestalten? Zum Schutz der Esskultur verzichtet Thomas Vilgis auf solche Produkte. Geschmacklich und Ernährungsphysiologisch ist ihm ein Erbseneintopf allemal lieber, und der darf sehr gerne auch vegan sein.

Ein modelliertes Fantasiebild von grüner Mikrobiologie
Erbseneintopf unter der Lupe
Lösungen und neue Probleme

Aber wenn derartige Produkte einen positiven Einfluss auf den Umgang mit Tieren und der Umwelt haben, könnten sie durchaus sinnvoll eingesetzt werden. Beispielsweise überall dort, wo Fleisch massenhaft zum Einsatz kommt, dessen Qualität aber zweitrangig für das Geschmackserlebnis ist.

„Genau an diesen Stellen sind Fakealien goldrichtig. Denn Tiere sind dafür viel zu wertvoll und sterben zu unrecht. Fakealien sind somit ein durchaus berechtigter Schritt, der abscheulichen Massentierhaltung entgegenzuwirken“

Dennoch sieht Thomas Vilgis eine Parallele zur aktuellen Fleischindustrie: Aus der Erbse werden Bestandteile isoliert, die für ein bestimmtes Premiumprodukt begehrt sind – Genau das Gegenteil der Nose to Tail Philosophie, die aktuell viele Fleischesser dazu animiert nicht nur das Filetstück zu genießen.

„Eine Erbse ist eben viel mehr als deren „hochwertiges Protein“, die „Lende“ sozusagen. Vieles was dort veranstaltet wird kann nur geschehen, weil wir letztlich Gemüse weniger wertvoll und mit weniger Emotionen ansehen, als Tiere mit großen Augen“

Und was ist mit anderen hochwertigen Proteinlieferanten wie Insekten?

„Dann werden für einen Burger 2000 Tiere getötet, anstatt das 1/2000 eines toten Tieres zu verwenden“

Das mag überzogen und nach einer Relativierung eines Fleischliebhabers klingen aber eine derartige Perspektive  regt dennoch zum Nachdenken an. Letztlich sind das Fragen der Bioethik und liegen nicht mehr im Fachbereich des Physikers, beim Essen geht es eben interdisziplinär zu. Deutlich wird aber, dass Lösungen für die Ernährung der Zukunft neue Fragen aufwerfen, die nicht so einfach zu beantworten sind.

Mit Herz und Hirn für die Erbse

Genau deshalb bleibt Thomas Vilgis beim klassischen Erbseneintopf oder beim Fleisch – aber eben nicht unbedingt einem Filet, und schon gar nicht täglich. Er schätzt Innereien wie Leber, Nieren, Herz, Hirn oder Hoden genauso.

Das lässt viele zurückschrecken, doch warum eigentlich? Die Entwicklung zum wissenden Esser, der fähig ist unterschiedlichste Lebensmittel für das zu schätzen was sie sind, ist nicht nur eine Geschmacksfrage, sondern auch eine Frage der kulinarischen Bildung. Klingt anstrengend und aufwändig – ist aber vielleicht weniger komplex als die Herstellung mancher Ersatzprodukte.

Fake ist nicht gleich Fake

Neben hochprozessierten Ersatzprodukten, die nicht jeden ansprechen, gibt es Produkte, die wie z.B. unser Cashcow Käse liebevoll und handwerklich hochwertig produziert werden. Der entspricht dann eher den kulinarischen Ansprüchen eines Feinschmeckers aber ist immer noch kein Camembert. Einigen Kunden mag eine Vermarktung als Analogprodukt helfen, um etwas Neues als Bekanntes Produkt besser einschätzen zu können. Schließlich sind Menschen neophob und meiden zur Sicherheit, potentiell gefährliche neue Lebensmittel.

Thomas Vilgis hat solche Ängste nicht, er genießt z.B. veganen Käse aus Nüssen oder Kernen als Produkt mit Pilzaromen, gerne begleitet von einem guten Rotwein und Baguette – Aber als das was es ist: „ein super spannendes Nussprodukt“ – alles andere ist Käse.

Was wir und warum gerne Essen kann sehr unterschiedliche Gründe haben. Genuss? Weltrettung? Überzeugung oder schlicht Hunger? Wir haben jedenfalls die Möglichkeit aus einem sehr großen Angebot auszuwählen. Um dabei überhaupt entscheiden zu können ist eine Auseinandersetzung mit unserer Ernährung notwendig und hilft eine selbstbestimmte Wahl zu treffen.

Zur Person: Prof. Dr. rer. nat. Thomas A. Vilgis Studierte Physik und Mathematik in Ulm, dann folgten Forschungsaufenthalte in Cambridge, London und Straßburg. Er ist Arbeitsgruppenleiter am Max-Planck-Institut für Polymerforschung in Mainz u.a. für Theorie weicher Materie (nichts anderes sind aus Physikersicht auch Lebensmittel), statistische Physik von Proteinen, molekulare Biophysik sowie Physik und Chemie von Lebensmitteln. Er ist Mitherausgeber des Journal Culinaire und Autor zahlreicher Bücher zur angewandten Wissenschaft in der Küche.